Es gibt Kunstformen, die einen sofort in ihren Bann ziehen. Bei mir sind das die pombalinischen Azulejos. Was mich daran fasziniert, ist die einzigartige Kombination aus Geometrie, schlichter Eleganz und der dramatischen Geschichte ihrer Entstehung. Es ist die Geschichte, wie aus der totalen Zerstörung etwas vollkommen Neues, Rationales und doch unendlich Schönes entstehen konnte. Dieser Gedanke berührt mich bis heute tief.
Die Katastrophe als Katalysator für Kreativität
Der 1. November 1755 war Allerheiligen, einer der wichtigsten Feiertage des Jahres. Die Kirchen Lissabons waren bis auf den letzten Platz gefüllt mit Gläubigen, die in Andacht versammelt waren. Plötzlich, gegen halb zehn Uhr morgens, begannen die Kirchenglocken von selbst zu läuten, ihr Klang unheilvoll und chaotisch, als würden sie nicht zum Gebet, sondern vor dem Ende der Welt warnen. Sekunden später bebte die Erde.
Die massiven Steingewölbe der Kirchen, die eben noch Schutz und Zuflucht symbolisierten, wurden zur tödlichen Falle. Sie stürzten auf die Menschen herab und begruben Tausende unter sich. Wer den ersten Erschütterungen entkam und in Panik auf die offenen Plätze am Tejo floh, wurde kurz darauf von einer gewaltigen Tsunamiwelle erfasst. Am Ende des Tages vollendeten verheerende Brände, die tagelang wüteten, das Werk der Zerstörung. Lissabon, eine der reichsten Hauptstädte Europas, lag in Schutt und Asche.
In diesem Moment totalen Chaos trat ein Mann entschlossen in den Vordergrund: Sebastião José de Carvalho e Melo, der spätere Marquês de Pombal. Sein Pragmatismus war unerbittlich. Auf die Frage, was nun zu tun sei, antwortete er mit dem legendär gewordenen Satz: "Die Toten begraben und die Lebenden versorgen." Pombal verhinderte Seuchen, sicherte die öffentliche Ordnung und organisierte sofort den Wiederaufbau. Anstelle einer nostalgischen Rekonstruktion der alten Stadt ordnete er die Schaffung einer völlig neuen, modernen Metropole an – erdbebensicher, rational und funktional.
Aus dieser Notwendigkeit erwies sich der Azulejo als ideale Lösung: robust, hygienisch und relativ kostengünstig in grossen Mengen herstellbar. Die Fliese wurde zu einem fundamentalen dekorativen und zugleich utilitaristischen Element im neuen städtebaulichen Programm. Sie wurde zur perfekten Ergänzung der strengen Architektur der neuen „Baixa Pombalina“.
Rationale Schönheit: Die Merkmale des neuen Stils
Die Muster der pombalinischen Fliesen sind programmatisch und spiegeln die neue, klare Architektur wider. Stilistisch sind sie jedoch stark von den verspielten Formen des früheren Rokoko inspiriert. Girlanden und Muschelornamente (Rocaille) wurden in grafisch elegante Elemente umgewandelt. Durch helle Pinselstriche und dunklere Schattenlinien wurde eine dezente Volumenwirkung erzeugt, die einen ausgezeichneten dynamischen Effekt bewirkte. Die Farbgebung war oft polychrom, aber auch einfache Kombinationen waren beliebt.

Eine neue Industrie für eine neue Stadt
Die Fliesen wurden in grossen Mengen für die neuen Mietshäuser (prédios de rendimento), aber auch für Paläste und Kirchen hergestellt. Die 1767 gegründete Real Fábrica de Louça do Rato spielte eine zentrale Rolle bei der Produktion, besonders unter der Leitung von Sebastião de Almeida (1771–1779). Interessanterweise wurden die zum Teil minimalistischen Musterfliesen sogar mit der verspielten „figura avulsa“ kombiniert.
Eine zeitlose Wahl
Die pombalinische Fliesenkunst ist ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, wie aus einer nationalen Tragödie eine Welle der Erneuerung entstehen kann. Sie repräsentiert den Geist der Aufklärung – pragmatisch, geordnet und auf die Zukunft ausgerichtet.
Wenn ich mir heute die Vielfalt dieser Epoche ansehe, gefallen mir die Azulejos mit einem minimalistischen Design in Weiss und Blau am besten. Diese Kombination unterstreicht für mich am besten die klare, geometrische Schönheit und die elegante Einfachheit, die diesen Stil so zeitlos machen. Diese Fliesen erzählen nicht nur die Geschichte einer einzigartigen Kunstform, sondern auch die des beeindruckenden Wiederaufstiegs einer ganzen Stadt. Wenn du Glück hast, kannst du auch eine geometrische Azulejo im pombalinischen Stil in unserem Shop finden.
Quellen: Meco, José. 1988. The Art of Azulejo in Portugal: Portuguese Glazed Tiles. Lisbon: Bertrand Editora | Berardo, José, Alfonso Pleguezuelo, and José Meco, et al. 2020. Museu Berardo Estremoz: Catálogo. Estremoz: Associação de Colecções