Betritt man eine portugiesische Kirche, erzählen die Wände Geschichten – nicht in Gold oder auf Leinwand, sondern in unzähligen blauen und weißen Kacheln. Diese monumentale Kunstform, die Portugal weltweit einzigartig macht, hatte ihre Geburtsstunde zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, befeuert durch Gold aus Brasilien, trat eine Gruppe visionärer Künstler auf die Bühne und definierte Azulejos neu. Dieser entscheidende Moment ist als der "Meisterzyklus" bekannt.
Der Abschied von der holländischen Dominanz:
Bis Ende des 17. Jahrhunderts war die portugiesische Fliesenkunst stark von holländischen Importen und deren Stil geprägt. Sie waren meist kleinformatig und für den privaten Gebrauch in Kapellen und Wohnräumen bestimmt. Ihre Detailfülle verlor auf großen Wandflächen jedoch an Wirkung.
Der "Meisterzyklus" markiert die bewusste Abkehr von diesem Vorbild. Portugiesische Künstler entwickelten einen monumentalen Stil, der darauf abzielte, ganze Wände und Räume zu verwandeln.
Die Pioniere des neuen Stils
Der in Spanien geborene, aber in Portugal tätige Künstler Gabriel del Barco (1649–ca. 1701) gilt als Schlüsselfigur des Übergangs. Seine Werke, wie die in der Santiago-Kirche in Évora (1699-1700), zeigen bereits eine neue dramatische und theatralische Auffassung. Er war ein primitiver Zeichner, aber seine spontane Malweise und die ausdrucksstarke Nutzung von Blautönen ebneten den Weg für die nächste Generation.
Bekannt für seine nervöse und lebendige Malerei, die deutliche holländische Einflüsse auf eine neue Ebene hob, war António Pereira. Seine Werke zeichnen sich durch transparente Farbflecken und schnelle Pinselstriche aus, die eine dynamische Lichtwirkung erzeugen.
Im Gegensatz zu Pereira war Manuel dos Santos Stil eher kontemplativ und lyrisch. Seine Figuren zeigen oft eine fast expressionistische Überdehnung und eine Sensibilität, die mit der Kühle der holländischen Technik konkurrieren konnte.
Als der vielleicht bedeutendste Meister dieser Epoche gilt António de Oliveira Bernardes (1662–1732). Er leitete eine große Werkstatt und perfektionierte den neuen Stil. Seine Kompositionen zeichnen sich durch räumliche Tiefe, skulpturale Rahmungen und einen meisterhaften Einsatz von Hell-Dunkel-Kontrasten (Chiaroscuro) aus. Er schuf monumentale Werke, unter anderem in den Kirchen von Évora und Barcelos.
Was machte den neuen Stil so einzigartig?
- Monumentalität: Die Künstler dachten nicht mehr in einzelnen Kacheln, sondern in riesigen Wandbildern. Die Azulejos wurden zu einer Art "zweiten Haut" der Architektur.
- Theatralik und Illusion: Die neuen Paneele nutzten Perspektive, um den Raum optisch zu erweitern und eine illusionistische Wirkung zu erzielen. Architektonische Elemente wie Säulen, Balustraden und Vorhänge wurden direkt auf die Fliesen gemalt, was einen theatralischen Effekt erzeugte.
- Emotion und Ausdruck: Im Gegensatz zur oft grafisch kühlen holländischen Malerei, verliehen die portugiesischen Meister ihren Figuren durch ausdrucksstarke Pinselstriche und dynamische Kompositionen eine neue Lebendigkeit und Emotionalität.
Das Vermächtnis des Meisterzyklus
Der "Meisterzyklus" war mehr als nur eine stilistische Weiterentwicklung. Er war ein Akt der kulturellen Selbstbehauptung. In nur wenigen Jahrzehnten schufen diese Künstler einen unverwechselbaren nationalen Stil, der die portugiesische Kunst für immer prägen sollte. Wenn wir heute die großen blauen und weißen Azulejo-Zyklen bewundern, sehen wir das direkte Erbe dieser Pioniere, die es wagten, aus importierten Ideen etwas völlig Neues und Einzigartiges zu schaffen.
Quellen: Meco, José. 1988. The Art of Azulejo in Portugal: Portuguese Glazed Tiles. Lisbon: Bertrand Editora